Die Sozialstaatsdebatte in Deutschland hat sich stark zugespitzt, wesentlich angetrieben durch Äußerungen von Bundeskanzler Friedrich Merz. Ein systematischer Blick in die aktuellen Statistiken zeigt allerdings: Die Gesamtausgaben für soziale Sicherung sind in Deutschland nicht auffällig hoch und nicht auffällig gestiegen. Gemessen an der gesamtwirtschaftlich relevanten Größe, der Wirtschaftsleistung, sind die Ausgaben in zentralen Bereichen wie Grundsicherung, Rente und Arbeitslosenversicherung sogar genauso hoch oder niedriger als vor 15 oder 20 Jahren. Das geht aus einer Auswertung des IMK hervor.
Einen Anstieg der Ausgabenquoten in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) gab es hingegen bei den Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe sowie bei der Pflegeversicherung. Dazu beigetragen haben besser vergütete sowie präventionsorientierte Pflegeleistungen, etwa bei Demenz, sowie der starke Ausbau der Kinderbetreuung. Solche Verbesserungen sind unter anderem wichtig, um die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit zu erleichtern. Wirklich problematisch ist nach Analyse des IMK die Kostenentwicklung lediglich in einem Bereich: dem Gesundheitssystem. Neben sinnvollen Reformansätzen kursierten auch dort allerdings Ideen, die eher kontraproduktiv wirken könnten, warnen IMK-Direktor Sebastian Dullien und die IMK-Finanzexpertin Katja Rietzler.
„Den Staat und auch die soziale Sicherung effizienter und gerechter machen zu wollen, ist absolut legitim. Die aktuelle Sozialstaatsdebatte krankt aber oft an einem Fokus auf vermeintliche oder sekundäre Probleme. Das könnte wirklich notwendige Reformen be- und sogar verhindern. Und es verstellt den Blick darauf, dass die soziale Sicherung ein wichtiger Faktor für Wirtschaftswachstum und gesellschaftliche Stabilität ist. Wir brauchen mehr realistische Analyse, weniger Alarmismus“, sagt Dullien.
Die Ausgaben für den Sozialstaat sind hierzulande im internationalen Vergleich nicht übermäßig hoch. Deutschland reiht sich nach einer IMK-Studie aus dem vergangenen Jahr bei der Quote staatlicher Sozialausgaben im Mittelfeld der EU-Staaten ein, zwischen Spanien und Dänemark. Der Ausgabenzuwachs zwischen 2002 und 2022 war sogar der drittniedrigste unter 27 OECD-Staaten, für die Daten verfügbar waren. Berücksichtigt man sowohl die gesetzliche Krankenversicherung als auch verpflichtende private Krankenversicherungen, wie es sie in einigen Ländern gibt, lag die deutsche Sozialausgabenquote nahe derjenigen der Schweiz und der USA.
Kürzlich hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) Daten veröffentlicht, die für 2024 einen Anstieg der deutschen Sozialleistungsquote aufzeigen. Wobei die Abgrenzung des BMAS nicht vollständig mit jener der OECD zu vergleichen ist. Zudem liegen für viele andere Länder noch keine Daten für 2024 vor. „Allerdings lässt sich schon vorab anhand der bisher vorliegenden Daten sagen: Der jüngste Anstieg war nicht so kräftig, dass Deutschland damit das Mittelfeld der europäischen Länder verlassen hätte“, betonen Dullien und Rietzler. Nach der Revision der BIP-Daten durch das Statistische Bundesamt im August 2025 lag die Sozialleistungsquote nach nationaler Messung 2024 bei 31,0 Prozent, 1,1 Prozentpunkte höher als im Vorjahr, aber immer noch niedriger als 2020 und 2021.
Zähler und Nenner
Ein Anstieg der Sozialleistungsquote muss nicht die Folge übermäßiger Ausgabensteigerungen sein, sondern kann auch an einer gesunkenen Bezugsgröße liegen. Und genau das ist nach der Analyse des IMK geschehen: Die Wirtschaftsleistung ist sowohl 2023 als auch 2024 im Jahresdurchschnitt geschrumpft. Selbst konstante Ausgaben würden in einer solchen Situation rechnerisch zu einem Anstieg der Sozialleistungsquote führen. Generell sind die inflationsbereinigten Sozialausgaben in Deutschland von 2009 bis 2019 ziemlich genau mit dem Trend des BIP gewachsen.
2020 führte die Covid-Pandemie zu einem überproportionalen Anstieg, was sich aber schnell korrigierte. Seit 2022 hinkt die Entwicklung der Sozialausgaben sogar dem ursprünglichen BIP-Trend hinterher. Allerdings ist das Wirtschaftswachstum selbst noch weiter hinter dem Trend zurückgeblieben, sodass sich die Sozialleistungsquote erhöht hat.
Die Betrachtung im Detail zeigt, dass die Entwicklung in den verschiedenen Bereichen der sozialen Sicherung unterschiedlich ausfiel. So waren die Ausgaben für die Rentenversicherung, inklusive Bundeszuschüsse, relativ zum BIP in den vergangenen 20 Jahren sogar rückläufig – sie sanken von 10,4 Prozent des BIP 2004 auf zuletzt 9,4 Prozent.
Ebenfalls rückläufig waren im 20-Jahresvergleich die Ausgaben für die Arbeitslosenversicherung – von 2,3 auf 0,9 Prozent des BIP. Dabei ist hier zu beachten, dass mit den Hartz-Reformen 2005 ein Teil der Kosten der Arbeitslosenversicherung in die Grundsicherung beziehungsweise das Bürgergeld verschoben wurde. Betrachtet man die Ausgaben von Arbeitslosenversicherung, Bürgergeld und Sozialhilfe zusammen, so sind diese Ausgaben insgesamt relativ zum BIP seit 2004 unverändert geblieben. Im Vergleich mit 2010 sind die Ausgaben für Bürgergeld, Eingliederungshilfen und Sozialhilfe – die in der Bürgergelddebatte derzeit Stein des Anstoßes sind – relativ zum BIP sogar leicht zurückgegangen, von 2,8 auf 2,7 Prozent. „Das ist umso bemerkenswerter, als mit der Flüchtlingsaufnahme um das Jahr 2015 und nach der russischen Invasion in die Ukraine 2022 mehrere Millionen Menschen nach Deutschland gekommen sind, die Bürgergeld erhielten beziehungsweise erhalten“, schreiben Dullien und Rietzler.
Einen deutlichen Anstieg gab es dagegen bei den Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe – seit 2004 von 0,8 auf 1,7 Prozent des BIP. Darunter fallen auch die Kosten für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen. Der Ausbau der Kinderbetreuung war ein wichtiges politisches Projekt, das Eltern eine höhere Erwerbsbeteiligung ermöglicht.
Gestiegen sind auch die Ausgaben der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung. Bei der Pflegeversicherung spiegelt der Anstieg der Ausgaben von 0,8 auf 1,5 Prozent des BIP seit 2004 sowohl eine Ausweitung der Leistungen, etwa bei Demenz, als auch eine steigende Fallzahl als Folge der demografischen Entwicklung sowie eine Verbesserung der personellen Ausstattung von Pflegeeinrichtungen wider. „Bei jeder Diskussion über ein angemessenes Niveau der Leistungen der Pflegeversicherung sollte beachtet werden, dass diese Leistungen Angehörigen oft erst die Erwerbsbeteiligung ermöglichen“, geben die Forschenden zu bedenken. Kürzungen würden „nur zu einer Verschiebung der Kosten vom Versicherungssystem auf die einzelnen Haushalte“ führen, „nicht eine gesamtwirtschaftliche Senkung der Pflegekosten bedeuten“.
Bei den Ausgaben für die Gesundheitsversorgung fällt nach der IMK-Analyse beim Blick auf Zahlen der OECD für 2024 auf, dass Deutschland hier tatsächlich im internationalen Vergleich sehr weit vorn liegt. Allein die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung sind zwischen 2004 und 2024 von 6 auf 7,5 Prozent des BIP gestiegen. Hinzu kommen die Ausgaben privater Krankenversicherungen, der Beihilfe und die Zuzahlungen der privaten Haushalte. Hohe Ausgaben für Gesundheit wären kein Problem, wenn im Gegenzug eine besonders gute Entwicklung bei der Lebenserwartung oder bei der Gesundheit der Bevölkerung zu beobachten wäre. Beides ist jedoch nicht der Fall, sodass nach Einschätzung von Dullien und Rietzler im Gesundheitssystem der problematische „Befund hoher Kosten bei mittelmäßiger Gesundheit der Bevölkerung“ angebracht sei.
Vielversprechend erschienen daher Reformvorschläge, die das Gesundheitssystem effizienter machen in dem Sinne, dass sie die Qualität von medizinischen Leistungen verbessern oder Doppeluntersuchungen vermeiden. Handlungsbedarf besteht auch bei den im internationalen Vergleich hohen Kosten für Medikamente. Die liegen in Deutschland pro Kopf fast 1,5-mal so hoch wie im europäischen Durchschnitt. Einfach nur mehr „Eigenverantwortung“ von Patientinnen und Patienten zu fordern, provoziere hingegen riskante Nebenwirkungen. So bewertet das IMK Vorschläge wie etwa Gebühren für Arztbesuche als wenig sinnvoll. Sie brächten die Gefahr mit sich, dass gerade Menschen mit geringen Einkommen trotz medizinischer Notwendigkeit nicht oder verspätet ärztliche Hilfe suchen, was die Krankheitskosten am Ende sogar erhöhen könne. Und Karenztage bei der Lohnfortzahlung führten möglicherweise dazu, dass kranke Menschen trotzdem zur Arbeit gehen und Kolleginnen oder Kunden anstecken.
Quelle: Böckler-Impuls, Ausgabe 17/2025