Die IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt warnt eindringlich vor den sozialen und wirtschaftlichen Folgen einer fortschreitenden Deindustrialisierung und fordert eine Industriepolitik, die den ländlichen Raum wieder in den Mittelpunkt rückt. „Industriepolitik ist nicht bloß eine Frage von Wettbewerbsfähigkeit und Energiepreisen – sie ist immer auch Regionalpolitik“, betont Carsten Maaß, Tarifkoordinator der IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. „Dort, wo Werkstore schließen, verlieren nicht nur Menschen ihre Arbeit. Ganze Regionen verlieren ihre wirtschaftliche Grundlage, ihre Stabilität – und ein Stück ihrer Identität.“
Gerade in Regionen wie Hildesheim, Holzminden oder im Weserbergland, wo metallverarbeitende Betriebe, Automobilzulieferer, Maschinenbauer, Betriebe der Elektronikbranche, textile Betriebe und Möbelhersteller über Jahrzehnte Wohlstand und Beschäftigung geschaffen haben, zeigt sich diese Entwicklung mit aller Härte. Wenn industrielle Arbeit verschwindet, zieht das einen ganzen Rattenschwanz nach sich: Der Bäcker verkauft weniger, die Werkstatt verliert Kundschaft, Kommunen müssen sparen – Schulen, Kitas und Vereine geraten unter Druck. „Industriearbeit ist das Fundament lokaler Lebensqualität“, sagt Maaß. „Wo nach der Schicht einst das Licht in den Gasthäusern brannte, sind heute die Stühle hochgestellt. Und wo Werkshallen leer stehen, wandern junge Menschen ab. Wenn Arbeit geht, geht Leben.“
Aktuell gehen jeden Monat rund 10.000 Industriearbeitsplätze in Deutschland verloren – eine Entwicklung, die Maaß mit massiver Sorge betrachtet. „Der Druck auf die Belegschaften wächst. Unter dem Deckmantel der Effizienz werden Werke infrage gestellt, Bereiche outgesourct, Verantwortung verschoben. In tarifgebundenen Betrieben gelingt es uns zwar, soziale Härten abzufedern – mit Abfindungsregelungen, Altersteilzeit und Transfergesellschaften. Aber machen wir uns nichts vor: Wer mit Mitte vierzig den Job verliert, dem droht kein Neuanfang, sondern Unsicherheit.“
Selbst die sozialverträglichste Lösung könne den strukturellen Verlust nicht aufwiegen, so Maaß: „Wenn ein Werk verschwindet, geht regionale Wertschöpfung verloren – und mit ihr Zukunft.“ Denn Industrie ist weit mehr als Produktion. Sie stiftet Sinn, ermöglicht Teilhabe und schafft Bindung. „Wo Industriearbeit verschwindet, bricht ein soziales Gefüge auseinander, das über Generationen gewachsen ist. Man kann das nicht einfach ersetzen“, so Maaß.
Karoline Kleinschmidt, Geschäftsführerin der IG Metall Alfeld-Hameln-Hildesheim, fordert daher ein Umdenken in der Wirtschafts- und Strukturpolitik: „Wir brauchen endlich eine Industriepolitik, die Perspektiven schafft, statt nur Krisen zu verwalten. Mittelstand und Zulieferbetriebe müssen gezielt gestärkt werden – durch Investitionen, planbare Energiepreise und eine Infrastruktur, die industrielle Arbeit auch jenseits der Metropolen ermöglicht.“
Wer den ländlichen Raum erhalten wolle, müsse ihn ökonomisch lebensfähig halten, betont Kleinschmidt: „Industriepolitik ist keine reine Wirtschaftsförderung – sie ist Daseinsvorsorge.“
In den Regionen Hildesheim, Holzminden oder im Weserbergland hängen zehntausende Arbeitsplätze direkt oder indirekt an der Industrie. Wenn Betriebe schließen, sind die Folgen kaum auszugleichen. „In der Industrie wächst nichts nach, wenn man sie einmal preisgegeben hat“, warnt Kleinschmidt. „Die Vorstellung, dass Dienstleistungen und Digitalisierung diese Lücken schließen könnten, ist eine gefährliche Illusion. Ohne Produktion fehlt Substanz – und ohne Substanz fehlt Zukunft.“
Die IG Metall appelliert deshalb an die Landes- und Bundesregierung, eine kohärente Industriepolitik zu entwickeln, die regionale Verantwortung mit nationaler Wettbewerbsfähigkeit verbindet. „Öffentliche Förderung darf nicht an Konzernzentralen versickern, sondern muss dort ankommen, wo Menschen arbeiten“, fordert Kleinschmidt. „Jeder Euro, der in industrielle Wertschöpfung fließt, ist ein Beitrag zur Stärkung der Regionen. Investitionen müssen an Beschäftigung, Standorttreue und Tarifbindung geknüpft sein – das ist echte Industriepolitik.“
Zugleich richtet sich die Kritik der Gewerkschaft an die Unternehmensführungen: „Viele Betriebe verdanken ihren Erfolg der Region, in der sie gewachsen sind. Wer jetzt bei Gegenwind das Weite sucht, handelt verantwortungslos“, sagt Maaß. „Eigentum verpflichtet – auch in schwierigen Zeiten. Wer industrielle Wurzeln hat, darf sie nicht einfach kappen.“
Die Forderungen der IG Metall im Winter der Aktionen:
- Öffentliche Gelder an klare Bedingungen knüpfen. Standorte und Beschäftigung sichern!
Staatliche Unterstützung darf es nur für Unternehmen geben, die sich verbindlich zu Beschäftigung, Tarifbindung und Standorttreue bekennen. Keine Förderung für Konzerne, die Standorte schließen, Tarifbindung umgehen oder Arbeitsplätze abbauen.
- Energie bezahlbar machen.
Ein Industriestrompreis von max. 5 Cent/kWh ab 1. Januar 2026 – inklusive Netzentgelte – ist notwendig. Hier ist einiges in Aussicht, muss aber zwingend und schnell kommen; zudem braucht es eine Kopplung an Beschäftigung und Standortgarantien. Die Stromsteuer auf europäisches Mindestmaß senken. Auch private Haushalte brauchen sinkende Preise.
- Wertschöpfung in Europa halten.
Öffentliche Aufträge und Fördermittel müssen an europäische Produktion gebunden werden. Es braucht eine verlässliche und nachvollziehbare Local-Content-Strategie.
- Zukunftsprogramm Automobil.
Neue Förderkulisse für Elektromobilität, Aufbau eines Social-Leasing-Angebotes, günstigerer Ladestrom im öffentlichen Raum, weiterer Ausbau der Ladesäuleninfrastruktur, der erneuerbaren Energien sowie der Netze.
- Sozialstaat schützen – Transformation sozial gestalten.
Kein Kahlschlag beim Sozialstaat. Einschnitte bei Arbeitszeit, Rente oder Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall sind keine Lösung. Wandel gelingt nur mit Sicherheit statt Angst.
- Solidarische Finanzierung.
Milliarden- und größere Millionenvermögen sowie hohe Kapitalgewinne müssen stärker zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben beitragen. Mittel- und Geringverdienende brauchen Entlastung.
Für die IG Metall steht fest: Eine starke Industrie sichert nicht nur Einkommen, sie stiftet Identität. In Niedersachsen und Sachsen-Anhalt weiß man, was industrielle Arbeit bedeutet – sie steht für Stolz, für Zusammenhalt, für Verlässlichkeit. Diese Werte dürfen nicht dem Shareholder-Denken geopfert werden.
Industriepolitik ist kein abstraktes Thema aus den Berliner Ministerien. Sie entscheidet sich hier – in unseren Städten, in unseren Betrieben, in unseren Rathäusern. Wenn wir industrielle Stärke sichern, sichern wir Heimat, Perspektive und Zukunft. Industriepolitik ist Regionalpolitik – und sie beginnt vor unserer eigenen Haustür.
Quelle: IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, Presseinformation vom 9.12.2025.